[UK] - Entlang Schottlands Westküste von Fort William nach Dornie

Einklappen

Ankündigung

Einklappen
Keine Ankündigung bisher.
X
 
  • Filter
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge

  • Pfad-Finder
    Freak

    Liebt das Forum
    • 18.04.2008
    • 11913
    • Privat

    • Meine Reisen

    [UK] - Entlang Schottlands Westküste von Fort William nach Dornie

    Tourentyp
    Lat
    Lon
    Mitreisende
    Region/Kontinent: Nordeuropa

    Land: Großbritannien
    Reisezeit: Juni 2008
    Region/Kontinent: Nordeuropa

    ----
    Ergänzung September 2009: Dieser Reisebericht kann auch als Episode I von "Auf dem Cape Wrath Trail nach Norden" gelesen werden.

    ----

    Wie gewohnt rumpelte der Easyjet aus Berlin auf rauen Atlantikböen in Glasgow herunter. Schottland hatte mich wieder: Nach 2001, 2002, 2004 und 2006 sollte dies mein fünfter Urlaub nördlich von Clyde und Forth sein. Die üblichen 35 Minuten Verspätung brachten mich nicht aus der Ruhe, hatte ich doch in weiser Vorausahnung einen "Puffertag" in Glasgow eingeschoben. Im Empfangsgebäude, das einen immer wieder darin erinnern will, dass nicht alles schlecht war in der DDR, nahm ich meinen unversehrten Rucksack in Empfang. Der Berghaus Vulcan ist zwar nur für Fallschirmjägereinsatz gebaut, hält aber sogar Billigflieger aus.

    Auf dem Pflichtprogramm für den Tag stand nur ein Besuch bei Tiso, um Esbit-Brennstoff für meinen BW-Kocher zu kaufen. Den gab es dort tatsächlich, er wird einfach als "Solid Fuel" bezeichnet und in Form runder Tabletten unter der Marke Gelert verkauft - die Packung mit 24 Stück kostet 2,50 Pfund.

    Nach einer erstaunlich schnarcherfreien Nacht im SYHA-Hostel nahm ich am nächsten Morgen den ersten Zug nach Fort William. Trotz des "Spring Bank Holiday" verkehrten Busse und Bahnen nach Werktagsfahrplan. Der Blick auf die West-Highland-Way-Wanderhorden an der Strecke und im Zug, die Fahrt durch das Rannoch Moor und der Blick auf den wolkenfreien Ben Nevis brachten mich endgültig in Urlaubsstimmung. Als notorischer Spontanplaner hatte ich in FW bei meiner Ankunft natürlich noch keine Unterkunft, aber die abreisenden Wochenendurlauber hatten in der Bank Street Lodge genügend Vakanz hinterlassen.

    Die Fahrt im Zug hatte ich genutzt, um eine Rahmenplanung für die nächsten Tage zu machen: Ja, die Wettervorhersage ließ es möglich erscheinen, meine Idee einer WHW-Fortsetzung nach Nordwesten umzusetzen. Grundlage bildeten die Scottish Hill Tracks (SHT) aus dem gleichnamigen Buch der Scottish Rights of Way Society. Als Eck- und "must-see"-Punkte hatte ich Glenfinnan, Knoydart und Dornie/Eilean Donan Castle festgelegt. Die ersten beiden Etappen wollte ich als Tagestouren von Fort William aus unternehmen. Zum einen hatte ich das nicht unberechtigte Gefühl, in den Wochen zuvor weniger trainiert zu haben als eigentlich nötig; zum anderen weiß man ab einem gewissen Alter den Wert eines guten Betts zu schätzen.


    Noch am Nachmittag brach ich zur ersten Etappe nach Corran Ferry an Loch Linnhe auf. Diese Strecke verläuft zwar die ersten acht Kilometer auf Asphalt, ist aber auf Grund des gemäßigten Höhenprofils zum Warmlaufen gut geeignet. Und eine kleine navigatorische Herausforderung enthält sie mit dem weglosen Abschnitt hinter der Farm Lundavra ebenfalls. Für das Auge gibt es den Aussichtspunkt oberhalb von Fort William, den Blick auf die Westflanke des Ben Nevis und schließlich ein grandioses Panorama der Fjordlandschaft von Loch Leven über Loch Linnhe bis hin zur ersten Staffel von Inseln.


    Diese kleine Tageswanderung gab mir einen kleinen Vorgeschmack, was in diesem Jahr typisch sein sollte: Ausgedehnter Sonnenschein, der lange Hosen bisweilen lästig werden ließ; aber nicht so lästig wie die Midges, die das warme Wetter nutzten, um nackte Körperteile von Hillwalkern zu zerbeißen. Einen Vorteil hatte die Trockenheit der vorhergangenen Wochen jedoch: Selbst als "boggy" angekündigte Passagen waren in diesem Jahr gamaschenfrei zu bewältigen! Nach kaum mehr als 20 Kilometern hatte ich Corran Ferry erreicht. Und obwohl ich mir die Busabfahrten nach FW nicht notiert hatte, wollte es der Zufall, dass ich nur fünf Minuten warten musste.

    Unbarmherzig weckte mich die Sonne am nächsten Morgen um kurz vor sieben - damit war der Bus nach Corran Ferry um 7.55 Uhr quasi gebucht. Ziel der zweiten Etappe war Glenfinnan. Nach dem Übersetzen ging es zunächst am Ufer von Loch Linnhe nach Nordwesten, von wo mir ein fieser Wind penetrant ins Gesicht bließ.


    Was ich an dem Wind hatte, merkte ich jedoch, als ich bei Aryhoulan nach Westen in das Cona Glen abbog: Hier, im Windschatten der Berge und eines lauschigen Mischwaldes, warteten blutrünstige Hautflügler auf Frischfleisch...

    Zum Glück stieg der Weg schnell ins offene Gelände hinaus und ich ließ die Midges hinter mir. Wenn Glen Nevis die ganze Braveheart-Dramatik der Highlands verkörpert, dann steht Cona Glen für ein Wellness-Glen: Friedlich, mit einem plätschernden Bächlein in der Mitte - und ohne Wanderer. Das von mir erfundene schottische Sprichwort "Wo kein Munro, dort keine Menschen" bestätigte sich wieder einmal.


    Gemütlich trödelte ich den Bealach zwischen Meall nan Damh und Sgorr Carobh a Chaorainn hinauf, verwöhnte mich dort mit den geliebtes McVities Digestives Plain Chocolate, und bummelte dann langsam bergabwärts. Da hatte ich mich schon damit abgefunden, das die im SHT genannten 26 km Streckenlänge nicht die sechs Kilometer Vorlauf von Corran nach Ardgour beinhalteten - und daher das Erreichen des Zuges um 16.50 Uhr ab Glenfinnan unrealistisch war. Doch welch Überraschung, als sich der Pfad viel zu früh zu einer Schotterstraße wandelte!

    Schottland macht ernst mit der Klimawende, und deshalb wird am Allt na Cruaiche ein kleines Wasserkraftwerk errichtet. Um die Wasserleitung zu verlegen, hat Scottish Hydro Electric nun auch eine Baustraße anlegen lassen. Nicht schön, aber schnell. Sieben Kilometer Weg zum Bahnhof Glenfinnan standen plötzlich nicht mehr für rund zwei Stunden, sondern für nur wenig mehr als eine Stunde. Da davon rund drei Kilometer auf ohnehin unerfreuliches Wandern an der Hauptstraße FW-Mallaig entfielen, gab ich ordentlich Gas - und erreichte den Bahnhof pünktlich um 16.49 Uhr. Das ersparte mir langwierige Auseinandersetzungen mit den notorischen Bahnhofsmidges von Glenfinnan.


    Zugleich ermöglichte es mir, im Internet-Cafe in FW noch einen Blick auf die Wettervorhersagen zu werfen. Weatheronline, Metoffice und Wheatherchannel waren sich leider überhaupt nicht einig. Ich beschloss, auf die optimistische Karte zu setzen.

    Wie sich am nächsten Tag zeigte, lag ich damit für Fort William richtig: Bedeckt, aber trocken. Doch schon kurz hinter Locheilside klatschte der Regen gegen die Zugscheiben. Als ich in Glenfinnan ausstieg, hingen die Wolken tief an den Bergen und ließen einen klassischen Landregen herunterfallen. Die einzigen, die sich davon nicht irritieren ließen, waren die Midges, so dass meine Goretex-Vermummung zumindest unter diesem Aspekt ihr Gutes hatte.

    Recht gelegen kam mir auch die Corryhully-Bothy. Ja, die Gerüchte stimmen, es gibt dort elektrischen Strom! Doch mir ging es darum, meinen Rucksack-Regenhülle aufzubohren, und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Mit Seitentaschen und aufgeschnallter Isomatte passte der Rucksack nämlich nur zu einem kleinen Teil drunter. Zwei kunstvoll gesetzte Löcher in der Regenhülle ermöglichten es im Zusammenspiel mit improvisierten Spanngurten aus Reserve-Schnürsenkeln, die wasserdicht verpackte Isomatte außerhalb der Rucksackhülle zu befestigen.

    Inzwischen waren zwei völlig durchnässte Vertreter der Ultraleichtsinn-Fraktion eingetroffen, die nicht wussten, ob sie mehr über den Regen oder die Midges meckern sollten. Bevor ihre negativen Schwingungen mich erreichen und möglicherweise eine außerplanmäßige Übernachtung in Corryhully auslösen konnten, verdrückte ich mich. Der Anstieg zum Pass schien kein Ende nehmen zu wollen, ebensowenig wie der Regen. Zwar waren immer wieder Wolkenlücken zu sehen, doch sie füllten sich jedesmal, bevor sie mich erreichten. Ich tröstete mich mit der Erfahrung, dass ein ganzer Regentag in Schottland eher ungewöhnlich ist. Dumm nur, dass ich erst mittags aufgebrochen war...


    Als knifflig erwies sich am Ende von Gleann Cuirnean die Suche nach der Forststraße, der zur A Chuil-Bothy führen sollte. Den Pfad durch den Wald zur Straße fand ich nicht, und ein „Durchstoßen“ durch den Wald schien aussichtslos. Den wirren Fußspuren nach zu urteilen hatten es andere auch schon versucht. Schottische Wälder – oder besser Holzplantagen - sind nicht so besucherfreundlich wie deutscher Wald. Die Bäume stehen dicht an dicht, und dazwischen machen sich auf schwammigem Torfboden Moose mit einer enormen Wasseraufnahmefähigkeit breit. Schnell steht man da bis zu den Knien in der Pampe. Später, beim Abgleich der GPS-Tracks auf dem heimischen Computer mit der digitalen Landkarte, stellte ich fest, dass ich mich rund 200 Meter seitlich vom eingezeichneten Weg in den Wald hineinbewegt hatte. Nur – die Trampelspuren waren eigentlich eindeutig gewesen. Fragen über Fragen.

    Also lief ich außen am Waldrand entlang bis Strathan und bog erst dort in den Wald ein. Die geschotterte Forststraße war jetzt ein wahre Wohltat, zumal der Regen aufgehört hatte und ich so die Möglichkeit hatte, meine verschwitzten Klamotten bis zur Bothy noch etwas trockenzulaufen.


    In der Bothy hatte sich schon eine Schülergruppe aus Südschottland mit ihren zwei Lehrern breit gemacht, einer davon Franzose mit nahezu akzentfreiem Englisch (!). Zum Glück waren die Schüler recht müde, so dass um zehn Uhr abends schon Ruhe einkehrte. Dafür stand der schottische Lehrer um vier Uhr morgens auf, um noch vor der Abreise einen Munro zu erlegen. Mal ehrlich – versteht irgend jemand, welchen Reiz es hat, im Nebel einen Berg zu ersteigen, nur weil er 914 Meter und nicht 913,8 Meter hoch ist?

    An diesem Morgen legte ich das erste und letzte Mal während meines Urlaubs Gamaschen an - und das auch nur deshalb, damit das noch regennasse Gras die Hose verschonte. Die für Schottland sonst so üblichen Matsch- und Schlammpartien blieben mir in diesem Jahr wegen der langen Dürre in den Wochen zuvor erspart.

    Unter dem Schutz einer dichten Wolkendecke und umweht von viel zu wenig Wind - Midges! - lief ich den Pass zwischen Glen Dessary und Loch Nevis hoch. Der Abstieg mäandrierte zwischen der linken und rechten Flussseite hin und her. In jedem "normalen" Jahr wäre das Fortkommen dadurch zumindest verzögert worden, in diesem Jahr konnte man das Rinnsal fast überall überqueren.


    In der Sourlies-Bothy an der Bucht legte ich meine Mittagspause ein. Der wenige Wind des Morgens hatte sich nun ganz gelegt, und die Midges wagten jetzt erst recht aus der Deckung. Hier galt der Grundsatz des "Reverse Mikado": Wer sich nicht bewegt, hat verloren! An dieser Stelle befindet sich der Festlandsübergang zur Halbinsel Knoydart, von vielen wegen des fehlenden Anschlusses an das Straßennetz als "abgelegen" und "wild" bezeichnet. Die Trennlinie stellt ein Fluss aus den Bergen dar, den ganz Mutige auf einer Stahlseil-Hängebrücke überqueren können. Wer vor den rostigen Seilen und den durchgebrochenen Brettern zurückschreckt, kann auch durch den Fluss gehen: Dort, wo die Schotterbank einer Innenkurve auf die Schotterbank der Gegenkurve trifft, ist meistens die günstigste Stelle. Aber Vorsicht: Sogar in diesem Jahr wurden die Schuhsohlen nass!


    Dieser verlassene Winkel am Ende von Loch Nevis hat eine ganz merkwürdige Atmosphäre: Gut gepflegte Landrover-Tracks kontrastieren mit den Grundmauern der früheren Siedlung Camusrory, verrostete Zäune und Strandgut mit den Schafen auf den Grasinseln - und dazwischen immer wieder Partymüll um kalte Feuerstellen. Hier treffen sich nachts die Zombies nach der Neutronenbombe...

    Diese Fantastereien konnten mich jedoch nur kurze Zeit von dem Gedanken ablenken, dass jetzt ein Anstieg von Meereshöhe zum Mam Meadail auf 550 Meter anstand, und zwar trotz der Serpentinen so steil, wie es gerade noch auf zwei Beinen geht: Linker Fuß - ausatmen, rechter Fuß - einatmen, linker Fuß... Nach anderthalb Stunden war der Anstieg geschafft, ich aber auch. Zum Glück kam erst jetzt die Sonne heraus und heizte binnen kurzem die Landschaft auf gefühlte 35 Grad auf. Gar nicht "mein Dingens".


    Wenigstens setzte jetzt etwas Wind von der See ein, die bald in der Ferne zu erkennen war. Der Abstieg nach Inverie bot eine hohe landschaftliche Ereignisdichte: Da gab es Hirsche, die sich die Hänge mit zeckensammelnden Munroisten teilten; den Birkenwald an der Kilchoan-Farm; das merkwürdige Denkmal auf einem Hügel vor Inverie, das Osteuropa-Historiker unweigerlich an die Kapelle auf dem heiligen Berg der Tschechen, dem Rip, erinnert.


    Der Höhepunkt kam jedoch kurz vor Inverie, wo eine dick bemooste Trockenmauer die Straße von einer Baumweide trennte und auf der Hangseite ein violetter Wall aus Rhododendron alle anderen Farben niederbrüllte. Leider hat meine Kamera eine Violett-Schwäche, deswegen kein Bild.

    Rhododendron fühlt sich überhaupt in Schottland wohl. Er fühlt sich so wohl, dass zu den vornehmlichsten Aufgaben bei der Renaturierung der Landschaft in Knoydart das Weghacken von Rhododendron-Wäldern gehört. Die Halbinsulaner haben sich sich nämlich darauf geeinigt, zur Öko-Region zu werden und zum Beispiel die Forstplantagen schrittweise durch Mischwald zu ersetzen.

    In Inverie hatte mich der Massentourismus wieder - relativ gesehen jedenfalls. Während ich bis zur Kilchoan-Farm an diesem Tag nicht einmal zehn Menschen begegnet war, lungerten Dutzende auf den Bänken vor dem "Old Forge". Die Werbung als "Britain's most remote Pub" ist relativ zu betrachten: Der Autoverkehr ist rege. Zwar ist die einzige Straße der Halb Insel nur zehn Kilometer lang und verbindet lediglich Inverie (70 Einwohner) mit Airor (30 Einwohner?), aber die Insulaner fahren gerne und viel, und obendrein am liebsten mit dem Landrover. 500 Meter Fahrstrecke auf der Uferstraße von Inverie scheinen nicht die Untergrenze zu sein. Das einzige akzeptable Argument sind die Midges. Doch denen könnte man auch mit dem Fahrrad entkommen, wie die Betreuerin des Knoydart Bunkhouse demonstrierte. Aber das war keine Einheimische. Damit Knoydart wirklich zur Öko-Region wird, ist noch eine Öko-Wende in den Köpfen nötig.

    Das Bunkhouse der Knoydart Foundation liegt im Osten von Inverie ("Dort abbiegen, wo kein Hinweisschild steht") und ist noch "Work in Progress". Ganz viel Potenzial gibt es noch bei Midge-Gittern vor den Fenstern der Schlafräume. Die Schlafräume sind vom Platz her aber das, was man sich immer gewünscht hat. Falls nötig, kann jeder Gast dort seinen kompletten Rucksackinhalt zum Trocknen ausbreiten. Was auch insofern nötig ist, als es keinen Trockenraum gibt.

    An diesem Donnerstagabend fand ich genügend Ruhe, um über meine weitere Tour nachzudenken. Fest stand: Ich hatte zuviel Gepäck dabei. Nicht ungewöhnlich, aber im +20-Kilogramm-Bereich lästig. Wollte ich wirklich Landkarten von den Cairngorms und Rannoch Moor weiter durch die Landschaft tragen, obwohl ich sie frühestens in anderthalb Wochen zu benutzen gedachte? Von den 13 Karten an Bord waren nur vier tourrelevant. Und musste ich Ralph Storers Hilltrack-Führer mitschleppen, obwohl er zu diesem Abschnitt der Westküste schwieg? Brauchte ich auf der Wildnistour tatsächlich eine saubere Ersatzhose für Pub- und Museumsbesuche? Wofür schleppe ich 22 Esbit-Tabletten mit mir herum, obwohl ich bestenfalls noch die Hälfte auf dieser Tour verbrauchen würde? Meine zwei Blasen an den Füßen sagten nein.


    Am nächsten Morgen stand ich also um viertel vor elf mit rund 30 anderen Passagieren auf dem Pier und wartete auf die "Fähre" von Mallaig, eigentlich ein umgebautes Fischerboot. Da sollten wir alle draufpassen? Und unser Gepäck auch noch?

    Als das Boot näherkam, schwanden diese Zweifel - doch etwas wuchsen meine Zweifel, ob ich es pünktlich zum Bus nach Fort William schaffen würde. Das Vorderdeck war bis zur Reeling mit Gepäck und Waren aller Art für die Halbinsulaner zugestellt. Und vor fünf Minuten sollten wir schon abgelegt haben... Doch die Besatzung hatte mit solchen Situationen Erfahrung. Ohne viel Gefackel organisierte sie eine Transportkette vom Boot über die Treppe zum Pier: Der erste halbwegs muskulöse Passagier, der die Treppe hoch ging, bekam von einem Matrosen einfach einen Koffer angereicht. Die Botschaft kam an - und er reichte den Koffer an den nächsten Muskelmann auf dem Pier weiter. Dazwischen wuselten Frauen, Kinder und Rentner nach oben und bargen ihre Koffer aus dem Stapel auf dem Pier. Kaum fünf Minuten später strömten die ersten Koffer auf die gleiche Weise ins Boot.


    Bei ruhiger See erreichten wir Mallaig dann zwar nicht pünktlich, aber rechtzeitig. Der Bus stand schon bereit. Unter britischem Blech steckte ein Mercedes. Es war ein Reisebus im sogenannten Midi-Format, also größer als ein Kleinbus und kleiner als ein ... Großbus. Wie auch immer, der dem Rentenalter schon recht nahestehende Fahrer kurbelte sein Gefährt mit großem Engagement über die Hügel und durch die Kurven der schmalen Straße von Mallaig nach Fort William. Sein Vorbild war wohl der Parabelflug der Astronautenschulen, also ein kurzer Moment der Schwerelosigkeit auf jeder Bergkuppe. Noch nie zuvor habe ich so freudig im Bus den Gurt angelegt. Meinen Rucksack, der neben mir saß, habe ich übrigens auch angeschnallt.

    In der Bank Street Lodge waren am frühen Freitagnachmittag natürlich keine Hostelbetten mehr frei. Aber für nur 11 Pfund mehr – also 25 Pfund – konnte ich ein Einzelzimmer aus der Abteilung „Pension“ buchen. Mit umgerechnet 35 Euro war das nicht teurer als in den besseren Pensionen im Oberharz oder im Zittauer Gebirge. Den restlichen Tag nutzte ich, um Kalorien zu tanken und meine Planung zu aktualisieren. Ich wollte natürlich meine Tour in der neuen Woche fortsetzen, nur etwas leichter. Die Wettervorhersagen lasen sich „viel versprechend“, wie es in der neuen Rechtschreibung so schön doppeldeutig heißt. Deswegen buchte ich mich gleich für das Folgewochenende wieder in der Bank Street Lodge ein, um dort meine „überflüssigen“ Sachen die Woche über deponieren zu können. Fort William als Verkehrsknoten der Western Highlands bietet als einziger Ort auch am Wochenende dem nichtmotorisierten Besucher ausreichend Mobilitätsoptionen.

    Ich nutzte die zwei Tage für eine Besteigung des Buachille Etive Mor samt anschließender Wanderung nach Glencoe Village und eine Radtour entlang des Great Glen. In Glen Coe hatte ich meine erste sensationelle Begegnung mit einer riesigen Moorpfütze: Ich konnte trockenen Fußes über das Moor gehen! Der Torf war mindestens einen halben Meter tief ausgetrocknet, wie durch die Risse zu sehen war. „Ich kann über das Moor laufen!“, wollte ich ausrufen, erinnerte mich aber an das unerfreuliche Ende ähnlicher Wunder in „Das Leben des Brian“ und verzichtete dann darauf.


    Am Montag setzte ich meine Westküstenwanderung fort: Mit dem Zug nach Mallaig, von dort mit der Fähre nach Inverie auf Knoydart, und dann ging es zügig los: Bei meiner Glen-Coe-Sportwanderung von 32 Kilometern und 1000 Höhenmetern hatte ich mich offenbar nicht nur „warmgelaufen“, sondern auch meinen Körper endlich auf sommerliche Temperaturen umgestellt. Hinzu kam, dass mein Rucksack jetzt nur noch 18 statt 22 Kilogramm wog. Überflüssige Landkarten und Wechselwäsche hatte ich in der Bank Street Lodge deponiert. Und auch essensmäßig hatte ich dazugelernt: Nur noch Trockenfutter.

    Bei 18 Grad startete ich den Aufstieg – und war froh, dass ich meine Katadyn-Filterflasche schon vorbereitet hatte. Denn mein Anfangsvorrat von 1,5 Litern war schon auf dem Sattel des Mam Barisdale bei 400 Metern zur Hälfte erschöpft. Manche werden jetzt einwenden, dass man das Wasser aus schottischen Bächen bedenkenlos direkt trinken kann. Im Grunde ist das richtig. Allerdings habe ich im Laufe dieses Urlaubs fünf tote Schafe und Hirsche gesehen, einen davon direkt in einem Bach. Darüber hinaus kennen die Schafe nun überhaupt keinen Unterschied zwischen Essecke und Abwurfzone. Das heißt immer noch nicht, dass das Wasser verseucht ist. Aber meine Urlaubszeit ist mir zu schade, um sie möglicherweise auf dem Klo zu verbringen.


    Für Ablenkung sorgten zwei junge Hirsche, die sich am helllichten Tag in den Farnwäldern am Bach vergnügten. In den Farnwäldern am Hang gegenüber ergänzten einige nacktbeinige Munroisten ihre Zeckensammlungen. Doch eigentlich lud das Wetter zum Weiterwandern ein: Die Midges fanden Sonnenschein, knapp 20 Grad und Windstille mindestens so gut wie die Touristen. Bevor sie mich fanden, hatte ich schon den Mam Barrisdale erreicht, wo der Wind den Aufenthalt etwas angenehmer machte.


    Das Gestein an diesem Pass zeichnet sich durch seine starke Gravitation aus. Insbesondere am frühen Nachmittag fallen ihr regelmäßig Wanderer zum Opfer. Man findet sie dann flachliegend auf den Wiesen, die Mützen tief ins Gesicht gezogen. Auch ich fiel der heimtückischen Gravitationsfalle zum Opfer. Rund eine Dreiviertelstunde dauerte es, bis sich mein Körper auf die neue Schwerkraft eingestellt hatte und wieder Blut in Richtung cerebrales Laufzentrum schickte.


    Schon bald konnte ich die Häuser in der Barrisdale Bay sehen. Welches war die Bothy? Schwer zu entscheiden. Auch als ich davorstand, war ich mir noch ganz sicher. Ein Schild gab es nämlich nicht. Es war der längliche graue Wirtschaftsbau direkt an der „Hauptstraße“.


    Das Gemaule einiger Besucher über „Abzocke“ - es wird dort ein Obulus von drei Pfund pro Nacht erwartet, aber nicht kontrolliert – kann ich nicht nachvollziehen. Immerhin hat die Bothy elektrisches Licht, Wasserversorgung und sogar Wasserspülung. Kostet alles Geld, wie der von 7 bis 22 Uhr ratternde Generator deutlich macht. OK, diesbezüglich gibt es noch „Optimierungspotenzial“... Aber an diesem Abend waren wir vier Gäste sowieso bis 23 Uhr wach.

    Was für Gespräche kommen heraus, wenn ein Zwangsschotte südenglischer Herkunft, ein Vater-Sohn-Gespann (70 und 40 Jahre) aus dem Lake District und ein ebenso politisch unkorrekter Deutscher zusammensitzen? Es wird über die midge-abschirmende Wirkung des Gitters in afghanischen Burkas gemutmaßt, die Frage, ob man die Burka über dem Rucksack oder darunter tragen sollte und ob moderne Burkas aus Funktionsgewebe sein sollten – oder gleich Goretex.

    Die letzte Frage hatte einen durchaus aktuellen Anlass, denn die Wettervorhersager von Metoffice, Weatheronline und Weatherchannel hatten für den Dienstag einhellig starken und ausdauernden Regen prophezeit. Ein Fernseh-Wetterfrosch hatte sich sogar zu „torrential downpours“ hinreißen lassen. Als ich um sieben Uhr aufwachte, war davon noch nichts zu sehen. Es war bedeckt, und ganz weit hinten in der Bucht von Loch Hourn wälzten sich dicke Wolken über die Berge.


    Geistig und vorratsmäßig hatte ich mich zwar schon halb damit abgefunden, den Tag lesend in der Bothy zu verbringen („Es ist Urlaub, wir sind hier nicht auf der Flucht!“), aber unter diesen Umständen war gar nicht daran zu denken. Zumindest bis Kinlochhourn wollte ich es jetzt schaffen – dort gab es nach Information des Vater-Sohn-Gespanns ein B&B.

    Der Weg von Barrisdale nach Kinlochhourn läuft zwar eigentlich „immer am Ufer“ entlang, aber beim genaueren Blick auf die Karte wird man schon den einen oder anderen Zwischenbuckel erkennen. Ein paar Mal 50 Meter rauf und runter summieren sich auch. Deswegen sollte man für die zwölf Kilometer von der Bothy bis nach Kinlochhourn eher vier als drei Stunden einplanen. Ja, und wie froh war ich, dass ich in Barrisdale übernachtet hatte: Denn plötzlich sah ich auf einem Vorsprung vier vermummte Talibanesen, die ihre Zelte abbauten. Mir kam das ganze erst einmal so merkwürdig vor, dass ich in Deckung ging und mein Fernglas herauskramte, um die Lage zu sondieren. Gesichtsschleier, Handschuhe... sehr merkwürdig. Doch ihr Zucken und das regelmäßige Wischen durch das Gesicht verriet altes kaledonisches Brauchtum: „The Dance in Reverence of the Scottish Midge“, häufig verwechselt mit dem „Highland Fling“-Tanz.

    In Kinlochhourn erlebte ich noch ein besonderes Schauspiel: Ein holländisches Pärchen – mit einem wunderschön restaurierten Saab 92 und natürlich einem Wohnwagen – hockte am Bach und spülte Geschirr ab. Mit Goretex-Vollschutz, Mückenschleier und Handschuhen. Als ich näherkam, um das Auto zu bewundern, fragten sie mich etwas verwundert: „Aren't the midges bothering you?“ Ich verneinte. Nachdem ich 30 Sekunden Smalltalk geführt hatte, musste ich mich korrigieren: Es war die Hölle. Überstürzt verabschiedete ich mich und versuchte im Gehen, zum einen einen klaren Verstand zu fassen und zum anderen die nächste Landkarte und mein Mückennetz aus dem Rucksack. Als ich das irgendwann mal in Deutschland auf Vorrat gekaufte Netz aus der Verpackung holte, kamen mir die ersten Zweifel: War die Maschenweite nicht etwas groß? Ja. Es war ein Mückennetz, kein Midge-Netz. Die Wirksamkeit beschränkte sich auf einige Tiere, die sich beim Anblick der Maschen totlachten. Die anderen krabbelten durch.


    Unter diesen Umständen trat ich die Flucht nach vorne und vor allem nach oben an. Jegliche Aussicht auf „torrential downpours“ hatte inzwischen blauem Himmel mit friedlichen Quellwölkchen Platz gemacht. So steuerte ich als nächstes Ziel den Pass zum Glen Quoich an. Dort würde ich mich hoffentlich bei etwas Wind in Ruhe entscheiden können, wohin ich weitergehen wollte: Auf direktem Wege durch Glen Loyne nach Shiel Bridge, oder Richtung Cluanie Inn.

    Während ich auf der Passhöhe am Bealach Coire Sgoireadail herumlungerte, donnerte eine Viererbande deutscher Tatzenträger in gleicher Richtung an mir vorbei. Es waren die einzigen Stockträger meines ganzen Urlaub, die ihre Stöcke effektiv einsetzten – und nicht in der Art eines Schleppankers oder Hakenpfluges hinter sich herzogen. Mit Interesse verfolgten ich ihren Weg durch das Fernglas: Denn sie schlugen den direkten Weg nach Achnagart/Shiel Bridge ein. Offensichtlich war der Pfad nicht leicht zu erkennen, denn sie durchkämmten das Gelände jenseits des Flusses in langsamen Tempo.


    Als ich selbst am Fluss ankam, fiel die Entscheidung gegen Achnagart nicht mehr schwer. Zum einen hatte ich inzwischen knapp 20 Kilometer auf dem Buckel, zum anderen fehlte mir die Lust auf weitere 700 Meter Auf- und Abstieg. Es gibt Situationen, in denen Landrover-Tracks echt attraktiv werden... Cluanie Inn war als nächstes Ziel gebucht. Zugleich würde ich auf diese Weise einen guten Grund haben, mein neues Zelt zu testen. Für die Geardos ist es ein Vaude Hogan Ultralight, für Romantiker „Hogan, die Schildkröte“. Bis Cluanie Inn waren es noch einmal gut 22 km. Das wäre zwar zu schaffen gewesen, aber kaum vor 22 Uhr. Kurz hinter der Alltbeithe-Jagdhütte – nicht zu verwechseln mit Alltbeithe-Hostel im Glen Affric – begann ich mit der Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz. Ich fand ihn bald, auch wenn mich einige Hirsche am Bach missmutig beobachteten.

    Die Nacht war kurz und kalt. Von so etwas wie Dunkelheit ließ sich eigentlich nur von 23 bis 3 Uhr morgens reden. Das Thermometer fiel ... nicht, weil es in die Zeltinnentasche eingehakt war, zeigte aber um 5 Uhr morgens nur noch 7 Grad an. Für „Komfort“ im Ajungilak Kompakt Spring war das ein bis zwei Grad zu wenig. Erst gegen 6 Uhr schlief ich wieder ein, um dann gegen 8 Uhr völlig verschwitzt in einem brüllend heißen Zelt aufzuwachen. Selbst die Midges sahen davon ab, am Innenzelt Einlass zu begehren. Dafür freuten sie sich darüber, dass ich so lange brauchte, um das Zelt abzubauen.


    Bei knackig blauem Himmel lief ich los und erwischte sogar auf Anhieb die Abkürzung zum Cluanie Inn über die Hochfläche am Creag Liathtais. Loch Loyne bot einen Mitleid erregenden Anblick: Riesige Schotterränder zeugten von der Trockenheit der letzten Woche. Selbst der Loyne River, der sonst schon mal gerne unpassierbar ist, hätte an fast jeder Stelle trockenen Fußes überquert werden können. Die Nähe zum Cluanie Inn und die Aussicht auf eine leckere vollwertige Mahlzeit ließ mich jedoch nicht lange ruhen. Endlich begegneten mir auch wieder Menschen – Tagestouristen und zum Schluss sogar Spaziergänger.


    Im Cluanie Inn hatte ich die Wahl zwischen Pest und Cholera: Draußen im Lärm der Straße sitzen oder drinnen im Mief von Plüschmöbeln. Ich glaube, man war mir recht dankbar, dass ich nicht den Mief des ungeduschten Wanderers hinzufügte. Das Essen war nett und sogar etwas originell: Beefburger mit Schafskäse. Das hatte ich vorher noch nie gesehen. Ein große Portion Eis verschloss die Packung. An der Bar stockte ich noch meine Snickers- und Naschzeug-Bestände auf und stapfte dann weiter in Richtung Glen Affric. Das kurze Stück an der Hauptstraße von Skye nach Inverness entschädigte durch einige nette Aussichten über Loch Cluanie, vor allem aber durch den intensiven Vanille-Geruch des Ginsters am Straßenrand.

    Das nächste Wegstück von der Straße bis zur „Jugendherberge“ - besser der Berghütte – in Glen Affric kannte ich schon von einer früheren Expedition. Damals war es allerdings nicht nur von unten feucht gewesen, sondern auch von oben. Dieses Jahr war es von oben ganz trocken und von unten nur ein wenig feucht. Wie schon an einigen anderen Stellen konnte ich in gerader Linie durch die sonst morastige Niederung gehen, ohne sonderlich auf „böses“ und „gutes“ Gras achten zu müssen: „Böses“ Gras schwimmt nur auf dem Torf, was man aber meist erst merkt, wenn man schon bis zu zum Knie eingesunken ist. „Gutes“ Gras hat einen soliden Wurzelkörper, der bis zum Grund reicht und meistens auch einen Wanderer trägt. Jedenfalls dann, wenn er senkrecht auftritt und nicht die delikate Turmkonstruktion abbricht und umkippt. Woran man das gute „Gras“ erkennt? Nun, ich verrate es nicht ... das gehört zum Lernprogramm für jeden Schottland-Anfänger.

    Zu den Pflichtpunkten eines Besuches im Glen Affric Hostel gehört für mich die Besichtigung der Absturzstelle eines Wellington-Bombers. Er war dort 1943 bei einem Übungsflug abgestürzt. Leider musste ich in diesem Jahr feststellen, dass nur noch drei größere Bruchstücke zu finden waren, einige weniger als noch vor zwei Jahren. Selbst das Hostel hatte sich bedient, ein Propellerblatt lag am Eingang. Als gelernter Historiker finde ich das Plündern historischer Stätten bedenklich. Und da es nur noch wenige Orte gibt, die derart unverfälscht an Kriegsopfer erinnern, halte ich es auch für unanständig.

    Das Hostel hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gewandelt. Ob zum Besseren, muss jeder selbst beurteilen. Geblieben sind nur die durchhängenden Doppelstockbetten. Aber weder 2004 noch 2006 wurde Bettzeug gestellt – jeder musste seinen Schlafsack mitbringen. 2004 gab es auch noch keine Dusche. 2006 war sie dem Personal und „Notfällen“ vorbehalten, wie etwa tropfnassen und unterkühlten Schlechtwetter-Munroisten. In diesem Jahr gab es nur die Bitte, mit dem Wasser sparsam umzugehen. Steven, der Hüttenwart der diesjährigen Saison, dachte sogar laut über einen Kühlschrank nach. Das elementare Hüttenerlebnis ist das nicht mehr.

    Am nächsten Morgen brach ich sehr zeitig in Richtung Falls of Glomach auf. Die hatte ich bei meinen zwei früheren Touren durch das Hinterland von Glen Affric gemieden, weil auf dem Weg dorthin drei bis fünf Kilometer weglose Strecke lagen, zumindest laut Karte. Bei Dauerregen oder niedriger Wolkendecke lässt sich damit nur schwer ein positives Urlaubserlebnis verbinden. Weglose Strecke von solcher Länge bedeutete nach meinen bisherigen Erfahrungen, dass ich dafür reichlich zwei Stunden brauchen würde. Wenn dazwischen auch noch die eine oder andere Flussquerung liegt, ist es eine Expedition mit offenen Ende.

    In diesem Jahr war alles anders. Zwar gab es Millionen von Midges, die hofften, bei mir eine Mahlzeit zu sich nehmen zu können, doch der trockene Boden ließ mich schneller laufen als sie fliegen konnten. Der schnellste Weg führte geradewegs über ausgetrocknete Torfpfützen! Selbst die Flussquerung war ein Kinderspiel, ich hätte an fast jeder Stelle trockenen Fußes – wenn auch nicht trockenen Schuhs – ans andere Ufer gelangen können. Das wenige verbliebene Wasser hatte mit „Fluss“ und „fließen“ eigentlich nichts mehr zu tun.

    Das merkte ich dann auch am Eingang zur Schlucht an den Wasserfällen. Denn wo kein Wasser, dort auch kein Wasserfall. Jedenfalls nicht so, wie es sich gehört. Eher lustlos stürzt sich eine trübe Brühe in zahnputzbecherähnlicher Dosierung über die Kante. Auch mit langen Belichtungszeiten konnte ich diesem Trauerspiel kaum zusätzliche Dramatik verleihen. Vielleicht muss ich doch noch einmal bei Dauerregen vorbeikommen?


    Der Abstieg entlang der Wasserfälle forderte noch einmal die Kniegelenke heraus. Daher war ich gar nicht unglücklich, dass mich im Tal erst einmal ein gut erhaltener Landrover-Track erwartete. Regelrecht verhaltensauffällig waren hier die Schafe. Die Tatsache, dass hier ein Bio-Bauer wirtschaftete, dankten sie mit fehlender Menschenscheu. Normalerweise reißen schottische Schafe spätestens bei einer Entfernung von fünf Metern vor jedem Zweibeiner aus. Nicht so hier. Man hätte sie fast streicheln können - aber nicht mögen. Was ihre Körperpflege betraf, waren sie nämlich doch ganz normale Schafe.


    An der Farm unterhalb des Coille-righ bog ich auf den parallen Fußweg nach Camas-Luinie ab. Das ist ein durchaus lieblicher Pfad durch Buschwerk und Birkenwäldchen, hier und da von Heidelichtungen durchbrochen. Aber nicht uneingeschränkt für Schwerlastwanderer geeignet: Um die Durchfahrt von Mountainbikern und anderen Hirschen zu verhindern, sind die Klapptor-Gatter so eng, dass man große Rucksäcke abnehmen und separat über das Tor wuchten muss.

    Am Morgen war mir Camas-Luinie noch als lohnendes Ziel erschienen. Doch die unerwartet schnelle und vor allem mühelose Überwindung des weglosen Abschnittes hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es war noch nicht einmal 15 Uhr, als ich Camas-Luinie erreichte. Auf meinem GPS hatte ich gerade einmal gut 20 Kilometer. Und das Bunkhouse sah weniger einladend als bei Regen aus. Für den Schlusssprint nach Dornie und Eilean Donan Castle fehlten geschätzte zehn bis zwölf Kilometer. Das war zu schaffen. Von Dornie aus würde ich mich mit dem Bus in eines der Hostels von Kyleakin bringen lassen und eine geruhsame Nacht in einem ordentlichen Bett verbringen.

    So machte ich mich an den letzten Aufstieg meiner Westküstentour – und verlor prompt den Pfad. Kühe hatten den Hang ordentlich zertreten und damit auch die wenigen menschlichen Fußspuren. Um Camas-Luinie herum war schon Radfahrer-Land, Wanderer waren dort eher die Ausnahme. Zum Glück war der Sattel, über den ich mich zur Küste schwingen musste, klar erkennbar. Ich gab die Suche nach dem Pfad auf und legte die letzten 500 Meter querfeldein zurück. Heidekraut, Diesteln und Ginster leisteten allerdings erbitterten Widerstand.


    Die Aussicht vom Sattel entschädigte dann allerdings für alle Mühen: Am Ende des schmalen V-förmigen Tals waren nicht nur die Cuillins auf Skye zu sehen, sondern auch die Brücke nach Skye. Es war, als ob einer der Autobahnarchitekten der dreißiger Jahre diese Perspektive konstruiert hatte. Wer schon einmal die A1 aus dem Bergischen Land nach Köln heruntergekommen ist, weiß, wovon ich rede.


    Von hier wäre alles ein Kinderspiel gewesen, wenn sich nicht langsam ein Nieselregen von Süden eingeschlichen und langsam stärker geworden wäre. Es blieb zwar immer unter der Goretex-Schwelle, aber die glitschigen Steine waren lästig genug. Erst an der Uferstraße verließ ich die Nieselzone. Es war kurz vor 18 Uhr, als ich im Postamt von Dornie einkehrte und mich erst einmal mit einem Eis belohnte. Die meisten Touristen waren schon auf und davon, und so konnte ich in aller Ruhe Eilean Donan Castle aus allen erdenklichen Positionen fotografieren. Nur der Mann aus dem Eintrittskarten- und Souvenirshop, der sich wohl gerade auf den Weg nach Hause machen wollte, beobachtete mich argwöhnisch. Um ihn in den wohlverdienten Feierabend zu entlassen, ließ ich mich auf einer Bank nieder und packte meine Kekse aus. Das beruhigte ihn. Drei Minuten später konnte ich weiter fotografieren.


    Da ich bis zur Busabfahrt noch reichlich eine Stunde Zeit hatte, kehrte ich in einer der örtlichen Bars ein. Nach kurzer Beratung mit der Serviererin, was wohl am schnellsten zubereitet ist, bekam ich einen ausgesprochen leckeren panierten Haddock mit Pommes frites. In Erinnerung an viel zu früh abfahrende Busse war ich zehn Minuten vor der Abfahrt an der Bushaltestelle – und durfte dann zwanzig Minuten warten. Aber meine Entscheidung war grundsätzlich richtig: Kaum hatte ich mich in die Polster gesetzt, ging ein kräftiger Sommerregen nieder.

    In Kyleakin gab es dann eine Überraschung. Das SYHA-Hostel hatte geschlossen, offensichtlich für immer. Ein spätes Opfer des Brückenbaus: Früher hat man von Kyle of Lochalsh mit der Fähre übergesetzt und dann in Kyleakin die erste Nacht auf der Insel verbracht. Heutzutage ist der Übergang vom Festland nach Skye mit dem Auto eine Sache von drei Minuten – kein Grund, in Kyleakin zu übernachten.

    Das Backpackers zwei Häuser weiter trug inzwischen auch einen anderen Namen als 2006, war aber immerhin noch geöffnet. Doch wie lange noch? Als ich am Morgen kurz vor acht Uhr auschecken und meine fünf Pfund Schlüsselpfand abholen wollte, war niemand da. Auf den Klingelknopf reagierte niemand („it's broken“, erfuhr ich nachher), also wählte ich fünf Minuten später die Mobiltelefonnummer, die auf den Flugblättern angegeben war. Eine sehr verschlafene Stimme kündigte an, sie werde „in a minute“ da sein. Als der Inhaber der Stimme zehn Minuten später in einen notdürftig überdeckten Schlafanzug eintraf, mangelte es ihm offensichtlich noch erheblich an Konzentrationsfähigkeit und Feinmotorik, nicht jedoch an Alkoholausdünstung. Immerhin bescheinigte er mir, mit dem Anruf „the right thing“ getan zu haben. Etwas ähnliches konnte ich ihm nicht bescheinigen, denn mein erster Bus nach Kyle of Lochalsh auf der anderen Seite der Meerenge war inzwischen weg.

    Also dackelte ich zu Fuß los. Rund fünfzig Minuten Zeit hatte ich zur Verfügung bis zur Abfahrt von Kyle of Lochalsh. Es war ein lohnender Weg: Bei strahlend blauem Himmel kroch letzter Nebel die Berge von Kintail hinauf. Glasklares Wasser umspülte den Fuß des Leuchtturms unterhalb der Brücke. Nur der braun verblühte Ginster bezeugte, dass in diesem Jahr der Frühling sehr früh gekommen war.



    Um elf Uhr war ich zurück in Fort William. Wen traf ich in der Fußgängerzone? Den südenglischen Zwangsschotten aus der Barrisdale Bothy. Er war gerade auf dem Weg zum Frühstück bei Nevisport, was mir eine gute Idee zu sein schien. Während ich an der Kasse stand, donnerte plötzlich ein Tiefflieger über das Dach und versuchte, die Dachpfannen abzuheben. Als treuer „Werner“-Leser und stiller Verehrer von Meister Röhricht konnte ich mir die Bemerkung „Oh, the Russians are coming!“ nicht verkneifen, was einen minutenlangen Lachanfall bei der Kassierin auslöste. Erstaunlich, mit welch abgehangenen Sitcom-Sprüchen man doch im Ausland noch punkten kann...

    Den Rest des Tages verbrachte ich mit Büroarbeiten. Zum Beispiel einem Büroschlaf auf der Wiese vor dem Rathaus und dem Beschriften von Postkarten: Wenn das Foto nur schön genug ist, reicht es ja wohl zu schreiben, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte, für die im übrigen sowieso kein Platz wäre.




    Kartenquelle: Wikimedia-Commons
    Zuletzt geändert von November; 02.11.2011, 18:58.
    Schutzgemeinschaft Grüne Schrankwand - "Wir nehmen nur das Nötigste mit"

  • paddel
    Fuchs
    • 25.04.2007
    • 1864
    • Privat

    • Meine Reisen

    #2
    AW: [UK] - Entlang Schottlands Westküste von Fort William nach Dornie

    Klasse!
    Sehr amüsant geschrieben. Habe mich durch mein ganzes Frühstück gekichert
    Froh schlägt das Herz im Reisekittel,
    vorausgesetzt man hat die Mittel.

    W.Busch

    Kommentar


    • Mika Hautamaeki
      Alter Hase
      • 30.05.2007
      • 3979
      • Privat

      • Meine Reisen

      #3
      AW: [UK] - Entlang Schottlands Westküste von Fort William nach Dornie

      Danke, du hast mir mit diesem tollen Bericht grade einen langweiligen Vormittag erspart!!!
      So möchtig ist die krankhafte Neigung des Menschen, unbekümmert um das widersprechende Zeugnis wohlbegründeter Thatsachen oder allgemein anerkannter Naturgesetze, ungesehene Räume mit Wundergestalten zu füllen.
      A. v. Humboldt.

      Kommentar


      • dooley242

        Fuchs
        • 08.02.2008
        • 2096
        • Privat

        • Meine Reisen

        #4
        AW: [UK] - Entlang Schottlands Westküste von Fort William nach Dornie

        Schöner Bericht.

        Da freu ich mich doch noch um so mehr auf den WHV auf der Forumstour.
        Gruß

        Thomas

        Kommentar

        Lädt...
        X